Sonntag, 18. Oktober 2020

Musikalische Wege

 


Foto: Ronald Spratte


Im Dezember 2011 verzauberte mich Katrin Glenz mit ihrer Stimme bei einem Weihnachtskonzert in Berlin. Ich kaufte ihre CD und kann mich nicht satthören. Mit Musik Menschen zu erfreuen muss etwas Schönes sein, waren meine Gedanken. Aber ich kann das nicht. Dazu bin ich zu unmusikalisch, zu behindert.

2012 erschien mein Buch „König Roland“. Im Mai war ich zur Buchlesung in Frankfurt am Main eingeladen. Warum nicht dazu Katrin einladen? Das wäre doch eine gute Ergänzung, waren meine Überlegungen. Katrin sagte spontan zu und es war ein schöner Abend.

Ich fuhr nach Hause mit dem Gedanken „musizieren zu können, wäre toll“. Seitdem hatten wir kaum Kontakt. Ich ging meinen Weg als Performer und war glücklich, Menschen mit meiner Kunst zu erfreuen. Meine Karriere ging steil nach oben. Ich fühle mich als Weltstar.

Im März 2020 musste ich meine Tournee in Brasilien vorzeitig wegen Corona beenden. Ich hatte das große Glück mit dem letzten Flieger nach Berlin zurückzukehren.

Und jetzt? Keine Performances? Keine Auftritte? Hm, etwas Neues muss beginnen. Aber was?

Mein Freund Philo meinte: „Lass uns Videos machen. Die Leute haben Hunger nach etwas Lustiges.“ So drehten wir lustige Videos und stellten sie ins Netz. Und wir bekamen viel Resonanz. Für die Videobearbeitung lud ich mir das Update vom Videoprogramm herunter. Dort war eine kostenlose Version von MUSICMAKER dabei. Neugierig probierte ich herum. Wow, eigene Musik machen! So hinterlegte ich die ersten Videos mit meiner Musik. Was für ein Fortschritt. Ich bin happy. Naja, es ist okay. Viel weiter werde ich nicht kommen. Ich bin unmusikalisch und dazu noch behindert.

Ich suchte mal wieder einen neuen Assistenten. Philo meinte, meine Mitbewohnerin Andie könnte gut zu dir passen. Okay, schick sie mal vorbei, war meine Antwort. Als Andie sich vorstellte, fielen mir sofort ihre leuchtenden Augen und ihre klare Offenheit auf. Das kann gutgehen, dachte ich. Aber sie ist Profimusikerin und ich kleiner Musikzwerg. Doch ich wurde des Besseren belehrt. Zwischen Andie und mir entstand eine tiefe Freundschaft. Wir reden über alles sehr offen. Ich brauch mich bei ihr nicht verstellen. Nach einem stressigen Probetag mit einer Tänzerin, schlug mir Andie vor, ins Kino zu gehen. Das tat gut abzuschalten und sich einfach fallen zu lassen. Apropos fallen lassen. So ging ich mit der ehemaligen Leistungsschwimmerin ins Sommerbad schwimmen. Obwohl ich es sehr selten tue, tat es mir richtig gut.

Tja, und eines Tages schleppte mich das Musiktalent zu Justmusic. Wir probierten dort Verschiedenes aus und ich entdeckte immer mehr die Freude an der Musik. Boah, so ein weites Feld. Was passt zu mir? Zum Glück habe ich Andie, die mir hilft, Schritt für Schritt meinen Weg zu entdecken.

Im September hatte ich meinen ersten Auftritt. Unglaublich, nach 10 Jahren Performances nun ein musikalischer Auftritt.

Durch Corona war mir der Zugang zu meiner Kirchengemeinde nicht mehr möglich. Wo tanke ich jetzt auf? Wo finde ich meinen Ausgleich?

In der Zeit von Corona produzierte auch Katrin Videos auf youtube. Ihre Stimme erwärmt immer wieder mein Herz und schenkt mir neue Kraft. So wurde unser Kontakt neu beflügelt. Darum entschloss ich mich die junge Sängerin im September zu besuchen. Ihre Ruhe und Freude haben mir neue Kraft gegeben. Die zweifache Mutter ermutigte mich, bei der Musik auch meine Stimme zu benutzen. Quatsch, dachte ich, ich mit meiner Sprachbehinderung. Doch, legte Katrin nach. Deine Stimme ist etwas Besonderes. Okay, ich werde es probieren.

Ich weiß nicht, wie mein musikalischer Weg weitergeht. Aber ich bin glücklich Engel gefunden zu haben, die mich ermutigen.


Te amo

 


Foto: Ronald Spratte


Te amo auf spanisch, di amo auf italienisch bedeutet ich liebe dich. Aber welche Liebe ist hier gemeint? Wir Deutschen trennen gern Freundschaft und Liebe. Entweder sind wir befreundet oder in einer Partnerschaft. Und Partnerschaft verbinden wir mit Liebe. Ganz klar! Schwarz und weiß. Keine weiteren Fragen. Amen.

Stop! Ich möchte aus meinen Erfahrungen berichten, dass dazwischen noch viele leuchtende Farben liegen. Es gibt noch eine Liebe, die stärker ist als eine Freundschaft, aber doch keine Partnerschaft. Te amo.

In Südamerika habe ich Te amo schätzen gelernt. Zwischen Domi aus Argentinien und mir entstand eine tiefe und offene Beziehung. Keine Partnerschaft, aber weit mehr als eine Freundschaft. Das bedeutet, liebevoll den anderen an einem heranlassen oder dabei gleich an Sexualität zu denken. Ich glaube, hierin liegt der Schlüssel von Te amo. Natürlich kann man es nicht mit jedem tun. Es ist ein Geschenk. Und wenn man das Glück hat, Te amo geschenkt zu bekommen, sollte man den Mut haben es anzunehmen.

Ich lernte Domi bei einem Workshop für Performances kennen. Wir haben uns gleich gut verstanden. So fragte ich die tolle Tänzerin, ob wir zusammenarbeiten wollen. Sie sagte sofort JA. Bei den Proben gingen Domi und ich ganz offen und frei miteinander um. Alles lief von selbst und respektvoll. Ich habe es sehr genossen. Als wir im Januar 2015 die Performance ONE das erste Mal aufführten, waren die Zuschauer sehr erstaunt. „Wow, war das toll! So eine offene und ehrliche Nähe.“ Das war auch der Grund, warum die Jury beim internationalen Performancefestival 2018 in Sevilla uns den ersten Preis gab.

Domi ging zurück in ihre Heimat und lud mich nach Argentinien ein. In Buenos Aries liefen wir Hand in Hand durch die Straßen und umarmten uns überall wie ein Liebespaar. Ganz normal. Te amo halt.

Wenn man für die Zwischenräume von Freundschaft und Partnerschaft offen ist, darf man Te amo auch in Europa, in Deutschland oder wo auch immer erleben.

Im Herbst 2016 lernte ich eine deutsche Tänzerin in einem Cafe kennen. Wir verstanden uns gut und wollten zusammenarbeiten. Bei der ersten Probe bat sie mich, ihr mein Solostück zu zeigen. Klar gern. Als ich mit meinem Tanz fertig war, kullerten ihre Tränen. Sie kam auf mich zu und gab mir einen Kuss auf meine Lippen. Ich war erschrocken und genoss es zugleich.

Was war passiert? Wenn das Herz überläuft – egal, ob aus Freude oder Trauer – fließen die Tränen. Und wenn das Herz regiert, tun wir häufig Dinge, wo der Kopf oft nein sagen würde. Aus diesem Aspekt heraus, kann man Te amo auch als die Sprache des Herzens bezeichnen.

Wer jetzt glaubt, es funktioniert nur zwischen unterschiedlichen Geschlechtern, der liegt falsch. Ich habe auch viele männliche Freundschaften, die Te amo Charakter haben.

Graben wir weiter, entdecken wir weitere Erkenntnisse.

In den 1990er Jahren war ich beim CVJM Sachsen-Anhalt als Jugendleiter tätig. Unter anderem war es meine Aufgabe ältere Mitarbeiter in den Ruhestand zu verabschieden. Also habe ich eine kleine Feier organisiert. Und wie das so ist, fragt man, was war das lustigste Erlebnis etc. Auf die Frage "Was hättest du dir manchmal gewünscht?" antworteten 95% EINE UMARMUNG. Das hat mich zum Nachdenken gebracht.

Beim Forschen stoß ich auf das Buch "Human touch" von Rebecca Böhme. Darin untersucht sie wie wichtig Umarmungen und körperliche Nähe sind. Zwar wird das in Zeiten von Corona nicht gern gesehen. Trotzdem ist es lebensnotwendig. In ihrem Buch berichtet von einem Experiment wo Kinder isoliert aufgewachsen und nach wenigen Monaten gestorben sind.

Das Thema „Te amo“ beschäftigt mich weiter. So hatte ich im April 2019 ein besonderes Erlebnis. Ich saß in der Frauenkirche in Nürnberg. Meine Begleiter schauten sich die Kirche an. Ich betrachtete für mich allein den Altar mit dem bunten Fenster. Plötzlich öffnete sich für mich das Fenster und ich sah eine bunte Wiese. Ein warmer Wind blies mir ins Gesicht und sagte leise: "Die Welt braucht Zwischenmenschen. Menschen, die mehr sind als ein Freund und doch kein Partner. Und du hast diese besondere Begabung mitbekommen.". Dann schloß sich das Fenster wieder. Ich war baff. Hatte ich eben geträumt? Ich fragte meine Begleiter, ob sie etwas Eigenartiges bemerkt haben. Ja, es war auf einmal ein warmer Wind. Wow, dann war es doch kein Traum. Und ich hatte endlich eine Antwort auf meine Frage bekommen warum ich oft mehr bin als ein Freund.

 Wer das Geschenk Te amo für sich nicht zulässt, wird um einiges ärmer sein.

 Dürfen wir das zulassen? Ja, auch Christen dürfen es zulassen. Warum? Im 1. Korinther 13 heißt es. Alles, was wir ohne Liebe tun, ist nutzlos. Nur mit Liebe bringen wir Früchte. Und zweitens ist Gott zu Weihnachten Mensch geworden. Darum brauchen wir auch nicht frommer sein als Gott.

Wir dürfen Liebe, Zuneigung und Umarmungen zulassen.

Te amo.