Die l9jährige Ute liegt auf dem Bett
und zählt die Regentropfen, die an die Fensterscheibe klopfen. Eins, zwei,
drei, vier. Ute kann nicht weiterzählen, ihre Gedanken haben sie wieder
eingeholt. Sie muss an ihren Bruder denken, den sie gestern zu Grabe getragen haben. Warum musste Robert
sterben? Er war doch mit seinen 16 Jahren noch viel zu jung. Es ist doch noch
lange kein Grund, sterben zu müssen, nur weil Robert von Geburt an
schwerbehindert war. Er konnte weder sitzen, laufen, sprechen, noch hören. Auch
bewegen konnte er sich kaum. Robert brauchte für alles, ja für alles fremde
Hilfe. Aber das ist doch noch lange kein Grund, sterben zu müssen. Ute findet
keine Antwort und beginnt erneut die Regentropfen zu zählen. Eins, zwei, drei,
vier, fünf. Wieder rasen die Gedanken durch ihren Kopf. Conni, ihre Nachbarin,
meinte heute morgen: "Es ist zwar traurig, dass Robert gestorben ist, aber
für ihn hatte ja das Leben sowieso keinen Sinn. Und für Euch war es nur eine
Belastung". Wie kann diese Frau so
etwas sagen? Wir haben
doch Robert aus Liebe betreut
und haben diese Tätigkeit nie als
Arbeit betrachtet. Ute wird wütend. Die Gedanken kreisen langsamer und Ute
erinnert sich an eine unvergessene Begegnung mit Robert:
Es war ein kalter, regnerischer
Herbsttag. Bei der Bioarbeit hatte der Lehrer blöde Fragen gestellt. Auch bei
der Mathearbeit kamen doofe Aufgaben
vor. Sogar in der Sportstunde versagte Ute laufend. Heute ist alles Scheiße,
dachte Ute, und wäre am liebsten im Erdboden versunken. Und auf dem langen
Heimweg blies ihr der kalte Wind den Regen ins Gesicht. Völlig erschöpft
und mit kaltem Herzen kam Ute zu Hause
an. Als sie die Stubentür öffnete, lag Robert auf dem Sofa. Er bemerkte sofort,
dass seine Schwester heute einen schlechten Tag hat. Deshalb versuchte Robert
mit aller Kraft, Ute mit seinen sonnenklaren Augen einzufangen. Als er seine
Schwester mit seinem Blick gefesselt hatte, lachte er sie aus tiefstem
Herzen an. Roberts strahlendes Gesicht und seine leuchtenden Augen tauten in sekundenschnelle ihr
vereistes Herz auf. Ute hatte plötzlich allen Kummer vergessen und war wieder
fröhlich. Dafür nahm sie ihren Bruder ganz lieb in den Arm.
Ute ist nun innerlich beruhigt und zählt wieder die Regentropfen.
Eins, zwei, drei, vier. Und diese Geschichte, denkt Ute, werde ich morgen
meiner Nachbarin erzählen, um ihr
deutlich zu machen, dass jeder Mensch eine besondere Fähigkeit hat. Ich werde
Conni sagen, dass es nicht darauf ankommt, was der Mensch nicht kann, sondern
was er kann. Robert war nicht behindert, sondern hatte die wunderbare Gabe,
anderen Menschen Freude zu schenken.
Ute dreht sich zur Seite und versucht
zu schlafen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen